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“Ich sehe alles, aber keiner sieht mich”
Die stillen Zeugen im Kindergarten
“Wenn Lena wieder weint, weil ihr die anderen das Spielzeug weggenommen haben, wird mir ganz komisch im Bauch. Ich möchte zu ihr gehen, aber ich traue mich nicht. Manchmal verstecke ich mich hinter dem großen Bauklötzeturm, damit ich es nicht sehen muss. Aber ihre Tränen höre ich trotzdem.”
Diese Worte könnten von jedem Kind stammen, das täglich Zeuge wird, wenn andere Kinder ausgegrenzt, geschubst oder verletzt werden. Es sind die Kinder, die wir oft übersehen – die stillen Zeugen, die weder Täter noch direkte Opfer sind, aber dennoch mittendrin stehen in dem, was geschieht.
Die unsichtbare Last der kleinen Zuschauer
Stellen Sie sich vor, Sie sind vier Jahre alt. Ihre Welt ist der Kindergarten, Ihre wichtigsten Menschen sind die anderen Kinder und die Erzieherinnen. Und in dieser Welt passieren Dinge, die Sie nicht verstehen, die Sie aber trotzdem tief berühren.
Da ist Max, der immer wieder von den älteren Kindern geärgert wird. Da ist Sophie, die beim Basteln beschimpft wird, weil sie “alles falsch macht”. Da ist Ben, der auf dem Spielplatz geschubst wird und hinfällt. Sie sehen das alles. Sie hören die weinenden Stimme, sehen die traurigen Gesichter, spüren die Anspannung in der Gruppe.
Und in Ihrem kleinen Körper passiert etwas: Ihr Herz klopft schneller, Ihr Bauch fühlt sich seltsam an, Ihre Hände werden feucht. “Warum passiert das?” “Bin ich auch in Gefahr?” “Warum hilft denn keiner?” “Soll ich etwas sagen?” Diese Fragen schwirren durch den Kopf der Zuschauerkinder, während sie versuchen zu verstehen, was vor ihren Augen geschieht.
Wenn das Unsichtbare sichtbar wird
Diese Kinder entwickeln ihre eigenen kleinen Überlebensstrategien. Manche schauen bewusst weg, andere werden besonders still, wieder andere versuchen sich abzulenken oder klammern sich an die Erzieherin. Einige beginnen plötzlich, zu Hause von “bösen Kindern” zu erzählen, andere werden nachts unruhig, ohne dass die Eltern den Zusammenhang erkennen.
“Mein Kind ist nicht betroffen”, denken viele Eltern. “Es wird ja nicht geärgert oder geschlagen.” Aber diese Kinder sind sehr wohl betroffen – nur auf eine andere, oft übersehene Weise.
Sie lernen durch das, was sie miterleben. Sie lernen vielleicht, dass Stärkere über Schwächere bestimmen dürfen. Oder dass Erwachsene manchmal nicht da sind, wenn man sie braucht. Oder dass es gefährlich sein kann, anders zu sein als die anderen. Manche lernen auch, wegzuschauen, wenn jemand Hilfe braucht. Nicht aus Bösartigkeit, sondern aus Selbstschutz, weil sie Angst haben oder nicht wissen, was sie tun sollen.
Die Kraft der kleinen Helfer
Aber da sind auch die anderen – die Kinder, die instinktiv spüren, dass etwas nicht richtig ist. Die zu dem weinenden Kind hingehen und es trösten. Die “Nein!” sagen, wenn jemand geärgert wird. Die eine Erzieherin holen, wenn sie sehen, dass jemand Hilfe braucht. Diese Kinder zeigen uns, wie natürlich Mitgefühl und der Wunsch zu helfen sind. Sie brauchen unsere Bestärkung, unsere Worte der Anerkennung, unser Signal: “Du hast richtig gehandelt.”
Was diese Kinder von uns brauchen
Alle Zuschauerkinder – die stillen, die ängstlichen und die mutigen – brauchen vor allem eines: Dass wir sie sehen. Dass wir erkennen, dass auch sie Teil des Geschehens sind, auch wenn sie nicht direkt beteiligt scheinen. Sie brauchen Worte für das, was in ihnen vorgeht: “Es ist normal, dass dir das Angst macht.” “Du kannst nichts dafür, wenn andere gemein sind.” “Es ist okay, dass du nicht weißt, was du tun sollst.”
Sie brauchen die Gewissheit, dass sie zu uns kommen können, wenn sie etwas beunruhigt. Und sie brauchen unsere Hilfe dabei zu verstehen, dass sie nicht hilflos sind – dass es Dinge gibt, die sie tun können, auch wenn sie noch klein sind.
Ein Aufruf an uns alle
In jedem Kindergarten, in jeder Kita-Gruppe gibt es diese stillen Zeugen. Es sind oft die aufmerksamen Kinder, die sensiblen, die viel wahrnehmen, aber wenig sagen. Es können aber auch die lauten, unruhigen Kinder sein, die ihre Überforderung anders zeigen. Als Eltern, Erzieherinnen, Großeltern, als Gesellschaft haben wir die Möglichkeit, diesen Kindern zu zeigen: Ihr seid nicht allein mit dem, was ihr erlebt. Eure Gefühle sind wichtig. Und ja, auch ihr könnt etwas bewirken.
Wenn wir lernen, die stillen Zeugen zu sehen und zu stärken, tun wir mehr als nur einzelnen Kindern zu helfen. Wir erziehen eine Generation heran, die nicht wegschaut, wenn andere Hilfe brauchen. Wir schaffen eine Kultur des Hinsehens und Helfens, die weit über den Kindergarten hinausreicht.
Die Kinder, die heute still zusehen, sind die Erwachsenen von morgen. Was sie heute lernen – wegschauen oder hinschauen, helfen oder ignorieren – prägt die Gesellschaft, in der wir alle leben werden.
Kleine Schritte, große Wirkung
Es braucht keine großen Gesten. Manchmal reicht es schon, einem Kind zu sagen: “Ich habe gesehen, wie lieb du zu Anna warst, als sie traurig war.” Oder zu fragen: *“Wie geht es dir denn, wenn du siehst, dass jemand geärgert wird?”
Diese Kinder sind nicht die Lösung für alle Probleme. Aber sie sind ein wichtiger Teil der Lösung. Sie sind die Brücke zwischen denen, die Hilfe brauchen, und denen, die helfen können. Sehen wir sie. Hören wir ihnen zu. Stärken wir sie. Denn in ihren kleinen Herzen liegt oft ein großer Schatz: die natürliche Fähigkeit zu Mitgefühl und der Mut, das Richtige zu tun – wenn wir ihnen dabei helfen zu verstehen, was das Richtige ist.